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Die Reise nach Costa Rica – oder wie man eine Bildungsinstitution in eine agile Organisation verwandelt


Mit agilen Organisationsstrukturen wollen sich Unternehmen für die Herausforderungen eines zunehmend volatilen, dynamischen Umfeldes wappnen. Dass Agilität nicht einfach nur ein bisschen Flexibilisierung bedeutet, sondern einen radikalen Kulturwandel verlangt, zeigt sich am Beispiel des Instituts für berufliche Aus- und Weiterbildung (IBAW) und der Klubschulen der Genossenschaft Migros Luzern. Diese haben 2019 ihre Organisation umgebaut. Die Corona-Pandemie war eine Art Härtetest.


Autor: RONALD SCHENKEL (EP Schweizerische Zeitschrift für Weiterbildung: Nr. 2 / 2021)

Im April 2019 haben das Institut für berufliche Aus- und Weiterbildung (IBAW) und die Klubschulen der Genossenschaft Migros Luzern ihre Organisation radikal umgestellt: von einer klassischen Top-Down-Matrix-Organisation auf selbstorganisierende Teams. Ziel war es, eine zukunftsfähige, das heisst vor allem eine anpassungsfähige Organisation zu schaffen. Das Stichwort lautet Agilität. Mit einer agilen Selbstorganisation wollte die Institution auf das zunehmend schnellere, unvorhersehbarere und komplexere Marktumfeld reagieren, in dem sie sich bewegt. Dabei unternahm das IBAW als eines der ersten Unternehmen der Migros-Gruppe diesen Schritt.

Agilität ist nicht mit Flexibilität zu verwechseln.[1] Und agiles Handeln setzt entsprechende Organisationsstrukturen voraus. Das IBAW orientierte sich an den Prinzipien der «Soziokratie S3» und an Organisationselementen von Spotify. Der ursprünglich schwedische Musik- und Videostreaming-Dienst hat verschiedene agile Methoden in einem Organisationsmodell zusammengefasst, das heute als Spotify-Modell vielen Unternehmen als Vorlage dient. So auch dem IBAW.

Squads als Miniunternehmen Kern des Spotify-Modells sind sogenannte Squads. Beim IBAW bestehen diese Teams aus vier bis maximal sechs Mitarbeitenden. Sie agieren als wirtschaftliche «Mini-Unternehmen». Sie legen ihre Strategie fest und sind für ihren Erfolg verantwortlich. Themenverwandte Squads werden in Business-Units zusammengefasst. Den Squads stehen verschiedene Shared Services zur Verfügung, wie zum Beispiel IT, HR oder Finanzen. Die Führungsebene bildet der sogenannte Tribe Lead, wobei Führung nicht im traditionellen Sinne als Erteilen von Direktiven zu verstehen ist. Der Tribe Lead sieht sich als Unterstützer der einzelnen Squads, legt die Gesamtstrategie fest und fördert die Unternehmenskultur. Dieser kommt eine ganz besondere Bedeutung zu. Sie beruht auf Vertrauen. Das mag heute ziemlich banal klingen, gibt es doch kaum ein Unternehmen, das für sich nicht in Anspruch nähme, über eine vertrauensvolle Unternehmenskultur zu verfügen.

Der Tribe Lead des IBAW geht jedoch davon aus, dass jeder Mitarbeitende stets im Sinne des Unternehmens handelt. Demensprechend wird möglichst wenig reglementiert, wie beispielsweise zu Spesenabrechnungen oder wer wann wo wie viel arbeiten muss. Laut Michael Achermann, der sich in Übereinstimmung mit der neuen Sprachregelung Lead IBAW nennt, lässt sich der Reifegrad einer vertrauensvollen Unternehmenskultur sehr gut am Umfang des Spesenreglements messen. Je mehr geregelt werde, desto geringer falle das Vertrauen gegenüber den Mitarbeitenden aus, dass diese im Sinne der Unternehmung handeln würden – und umgekehrt.

Das wiederum bedeutet, dass man auch zu Fehlern stehen muss – und kann. Denn auch das gehört zu einer vertrauensvollen Kultur, dass man bei der Darlegung eines Fehlers nicht mit Abstrafung rechnen muss. Werden Fehler aber aktiv kommuniziert, kann man mit ihnen eher umgehen und auch aus ihnen lernen, so Achermann.

Entscheiden nach dem Konsentprinzip Zu den Besonderheiten der Soziokratie wiederum gehört, dass Entscheide nach dem Konsentprinzip (explizit nicht nach dem Konsensprinzip) gefällt werden. Das heisst: Jeder ist berechtigt und auch aufgefordert, Anregungen und Ideen einzubringen, wobei diese gut begründet werden müssen. Dabei sollen alle betroffenen Mitglieder gehört und Meinungen oder Einwände integriert werden. Entscheidungen sollen von allen nachvollzogen und mitgetragen werden. Auch dazu ist Vertrauen notwendig. Solches im unternehmerischen Alltag zu leben, muss man aber erst einmal lernen.

Für die Implementierung der neuen Organisationsstruktur standen dem IBAW externe Coaches zur Seite. Überdies bildete man eigene Mitarbeitende intern zu sogenannten Agile Coaches weiter. «Eigentlich kannten wir die Stolpersteine, die auf unserem Weg lagen», sagt Michael Achermann, der sich, ganz der Terminologie des Spotify-Modells entsprechend, nicht Leiter, sondern Lead IBAW nennt. Trotzdem verlief nicht alles reibungslos. Das wiederum hat viel mit Traditionen, Gewohnheiten, ja mit der zuweilen doch etwas besonderen Art der Sozialisierung von uns Schweizerinnen und Schweizern zu tun.

Agil ist mehr als Theorie Im Nachhinein, knapp drei Jahre nach Einführung der agilen Selbstorganisation, ist für Michael Achermann klar: Die agile Organisation muss man (er-)leben, um sie tatsächlich zu verstehen und agil handeln zu können. Denn es ist nicht jedermanns Sache, in Lösungen zu denken, seinen eigenen Standpunkt einzubringen und diesen im Team zu verteidigen. «In eine Selbstorganisation zu wechseln, ist wie eine Reise nach Costa Rica», meint Achermann. Dort könne man sich von wunderbaren Regenwäldern verzaubern lassen, von Papageien und Schmetterlingen. Aber es gebe eben auch die Stechmücken. Nur wer mit beidem zurechtkomme, sei am richtigen Platz. Kein Wunder, verzeichneten manche Teams anfänglich hohe Fluktuationsraten. In anderen tendierte sie indes gegen null. «Wer geblieben ist, weiss die gewonnenen Handlungsspielräume zu schätzen und diese für die Unternehmung sinnvoll zu nutzen», ist Achermann überzeugt.

Zu diesen Handlungsspielräumen gehört die Selbstorganisation von Aufgaben innerhalb der Teams. Die einzelnen Teammitglieder haben dabei keine eigentlichen Funktionen im klassischen Sinn inne, sondern geben sich Rollen. Für jede Rolle existiert eine Rollenkarte. Diese umfasst die Rollenbeschreibung und Tätigkeiten für die Inhaberinnen und Inhaber. Sie ist so verfasst, dass sie Raum lässt, wie die Rolle auszufüllen ist. Rollenzuordnungen sind nicht fix, sondern wechseln je nach Situation aufgrund von Fähigkeiten und Eigenschaften der einzelnen Mitarbeitenden. «Dies erlaubt, dass die Mitarbeitenden das IBAW mitgestalten und sich mit ihren Rollen sowie dem Unternehmen identifizieren können», sagt Achermann. Weiter könnten bei Bedarf rasch neue Rollen geschaffen oder nicht mehr benötigte Rollen entfernt werden.

Es drohen die alten Muster Zum Schwierigsten auf dem Weg zur agilen Organisation gehörte, so Achermann, nicht in alte Muster zurückzufallen. Dass diese funktionierten, wusste man ja. Hätte man allerdings nachgegeben, wäre aus agil bald wieder traditionell geworden. Es galt, Gewohnheiten, aber auch Erwartungen zu widerstehen – den eigenen und jenen, die an einen herangetragen wurden. «Von uns, den früheren Chefs, erwartete man noch lange, dass wir Entscheidungen treffen und Lösungen präsentieren würden. Umgekehrt mussten wir lernen, dass unsere Vorschläge nicht automatisch umgesetzt und von den Squads auch schon mal ganz verworfen wurden.»

Gefordert waren aber auch die Mitarbeitenden im Umgang untereinander. Anfänglich habe man wie früher Klagen über Teammitglieder und Probleme den ehemaligen Chefs vorgetragen, anstatt diese im Team zu klären. Eine offenere Feedback-Kultur ist eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen von agilen Organisationen, denn nur so können auch die Rollen effizient zugeteilt werden. Nicht jeder, der gerne eine bestimmte Rolle hätte, ist in jedem Fall dazu geeignet. Das muss das Team ansprechen können. Auch die Mitarbeiterbeurteilung wird auf Ebene der Teams vorgenommen. «Jemandem sagen zu können, was er nicht gut kann, ist nichts Negatives», betont Achermann. «Vielmehr schulde man dem oder der anderen diese Offenheit.» Zwar sei man noch nicht ganz am Ziel einer der Organisation angemessenen Feedback-Kultur, aber auf gutem Wege.

Über den eigenen Schatten springen mussten die Squads des IBAW auch bezüglich der Vorstellungen, wann ein Bildungsangebot zur Durchführung bereit war. «Geschwindigkeit vor Perfektionismus» lautet das neue Credo, verbunden mit der Handlungsanleitung: «Fail fast, learn fast». Es gehe nicht darum, Fehler zu vermeiden, sondern daraus schnell zu lernen, sagt Achermann. Doch muss man wohl ungeschminkt sagen, dass das Primat der Geschwindigkeit und der Umgang mit einer neuen Fehlerkultur an sämtliche Teammitglieder hohe Erwartungen stellt. Mit einem neuen Bildungsangebot, das zuerst einmal nicht perfekt ist, rasch in den Kursraum zu gehen, um es dann später zu verbessern, ist zumindest in einem schweizerischen Verständnis unorthodox.

Corona als Testfall Doch nur dank dieser Orientierung an Geschwindigkeit und dank der sich selbstorganisierenden und autonom handelnden Squads habe man so rasch auf die Corona-Krise reagieren können. Während andere Bildungsanbieter Wochen brauchten, um ihr Online-Angebot aufzubauen, war das IBAW am Tag nach dem Inkrafttreten des Präsenzverbots bereit. Man habe dabei auf Kundenbedürfnisse reagiert, sagt Achermann. Denn was die Leute wollten, war klar: So rasch wie möglich ihre Ausbildung abschliessen.

Die Corona-Pandemie lässt sich im Rückblick als eine Art Bewährungsprobe für die agile Selbstorganisation des IBAW lesen. «Test bestanden», lautet Achermanns Fazit. Es erscheint denn auch logisch, dass die Organisationsstruktur des IBAW der Genossenschaft Migros Luzern nicht auf die Zentralschweiz beschränkt bleibt. Mit der Herauslösung der Berufsbildungsangebote aus den Klubschulen und deren Integration ins IBAW wird das Institut IBAW zu einer nationalen Bildungsanbieterin mit einer agilen Selbstorganisation.

Die Rechnung geht auf Am Ende zählen Kundennutzen und Wirtschaftlichkeit. Für Michael Achermann hat sich die Reorganisation ausbezahlt, im eigentlichen Wortsinn. Zwar seien die Personalkosten gleichgeblieben. Aber auf der Seite der Unternehmenskultur, der Loyalitäts- und schlussendlich der Ertragsseite habe sich der Wandel positiv niedergeschlagen.

Und noch etwas habe man dank der neuen Organisation gewonnen: Die Innovationskraft des IBAW sei deutlich gestiegen. Zum einen, weil Ideen von Teammitgliedern eingebracht und auf Ebene der Squads entwickelt würden und nicht mehr durch Hierarchien gereicht werden müssten. Zum andern aber auch, weil der Tribe Lead, die früheren Chefs, sich wesentlich besser darauf konzentrieren könnten, sich mit der Gesamtstrategie des Unternehmens zu beschäftigen und auf übergeordneter Ebene Neues zu schaffen.

Für Michael Achermann ist klar: Der Bildungsmarkt, in dem sich das IBAW bewegt, bleibt weiterhin raschen Veränderungen unterworfen. Auf der einen Seite steige der Fachkräftemangel in bestimmten Bereichen, auf der anderen Seite kämen neue, auch internationale, digitale Player quasi über Nacht hinzu.

Eine agile Selbstorganisation sei deshalb umso wichtiger, um zu überleben und zukünftige Chancen nutzen zu können, ist Achermann überzeugt. Die digitale Transformation betrifft zwar alle Branchen. Aber für Achermann sehen sich Bildungsinstitutionen wie das IBAW wesentlich stärker mit den Bedingungen der VUKA-Welt, in der Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit herrschen, konfrontiert als etwa Stromerzeuger oder Strassenbauer. Grösse, sagt Achermann, spiele dabei keine Rolle. Auf die Haltung komme es an.

Zum einen bekenne sich das IBAW ganz zur Schweiz, sagt Achermann, und wolle einen Beitrag zur Stärkung des Standorts leisten. Zum andern aber gehe es eben auch um Konkurrenzfähigkeit. Produkte und Bildungskonzepte könne man kopieren, meint der Lead IBAW, eine Kultur aber nicht. Auf diese neue Kultur setzt der IBAW Lead Achermann.

  1. Mit Verweis auf Andreas Auglinger betont dies Karin Dollhausen vom Deutschen Institut für Erwachsenenbildung, vgl. Dollhausen 2020 und 2021 in diesem Heft.

Literatur Dollhausen, Karin (2020): Gestaltung zukunftsfähiger Strukturen in öffentlichen Erwachsenenbildungseinrichtungen. In: Forum Erwachsenenbildung 3/2020. Dollhausen, Karin (2021): Strukturelle Veränderungen und Herausforderungen für Erwachsenenbildungseinrichtungen – Implikationen für die Kompetenzentwicklung des pädagogischen Personals. In: Education Permanente EP 2021-2. Zürich: SVEB. Ronald Schenkel ist freier Journalist, er unterstützt die EP redaktionell. Kontakt: ronald.schenkel@alice.ch



Die digitale Transformation hat längst auch den Weiterbildungsmarkt erreicht. Müssen Weiterbildungsinstitutionen darauf mit einer Umstellung ihrer Organisationsstruktur reagieren? Die Meinungen gehen auseinander.

Die digitale Transformation hat zahlreiche Branchen in ihren Grundfesten erschüttert. Man spricht von disruptiven Entwicklungen. Auch im Weiterbildungsmarkt scheint es Bewegung zu geben. Neue Anbieter wie Youtube oder LinkedIn drängen auf den Markt. Plattformen wie edX bieten Kurse renommierter Hochschulen an, die man ohne Präsenzzeit an irgendeiner Schule absolvieren kann. Vermag all das die traditionellen Anbieter zu erschüttern? Verdrängen die neuen Angebote herkömmliche Vermittlungsmethoden? Und wie sollen sich Weiterbildungsinstitutionen organisatorisch auf die neuen Bedingungen einstellen?


Das Institut für berufliche Aus- und Weiterbildung (IBAW) und die Klubschulen der Genossenschaft Migros Luzern haben ihre Organisation radikal umgestellt. Sie setzen auf Agilität. An die Stelle einer Top-Down-Matrixorganisation traten sich selbstorganisierende, kleine Teams, sogenannte Squads. Sie sind wirtschaftlich autonom, heterogen und funktionieren nach dem Konsentprinzip. Chefs waren gestern. Neu wird in Rollen gedacht und gearbeitet. Institutsleiter Michael Achermann ist von der Notwendigkeit der Umstellung überzeugt. Für ihn ist eine agile Organisation ein Gebot der Stunde, um am Markt weiterhin bestehen zu können.


Christiane Schiersmann, Professorin am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Heidelberg, sieht Bildungsinstitutionen nicht global unter Druck, sich aufgrund der Marktveränderungen auch organisatorisch neu aufzustellen. Sie warnt zudem davor, Mitarbeitende mit ständig neuen Anforderungen zu konfrontieren.

Am Rande der dritten nationalen Qualitätstagung am 10. Dezember 2019 in Bern «Wie agil müssen Weiterbildungsorganisationen heute sein?» sprachen wir mit Christiane Schiersmann und Michael Achermann über sich verändernde Märkte und agile Organisationsformen sowie über Folgerungen für das Qualitätsmanagement.


Frau Schiersmann, Sie sagen, die Weiterbildungsanbieter erleben den digitalen Wandel nicht disruptiv. Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?


Christiane Schiersmann (CS): Ich kann mich dabei auf die Untersuchung des SVEB und der pädagogischen Hochschule Zürich zum Grad der Digitalisierung in Weiterbildungseinrichtungen stützen. Man gesteht der Digitalisierung zwar eine grosse Bedeutung zu, empfindet sie aber nicht als disruptiv. Das deckt sich auch mit meiner Einschätzung und anderen Untersuchungen. Aber natürlich stellt sich die Situation für unterschiedliche Weiterbildungsanbieter auch unterschiedlich dar.


Michael Achermann (MA): Ich glaube, es hängt sehr stark davon ab, in welchem Bereich die Schule tätig ist: ob in der Grundbildung, der privaten oder der beruflichen Weiterbildung. Aber ich bin letztlich davon überzeugt, dass der Weiterbildungsmarkt insbesondere der Markt der beruflichen Weiterbildung wie viele andere Märkte stark der Disruption unterworfen ist, wenn man darunter einen schnellen und radikalen Wandel versteht. Allein die Geschwindigkeit, mit der wir uns heute Wissen aneignen müssen, hat sich gegenüber der Vergangenheit exponentiell beschleunigt. Hinzu treten neue Anbieter mit digitalen Background innert kürzester Zeit mit neue Angeboten und Möglichkeiten in den Markt. Eine meiner Töchter ist 15 Jahre alt und absolvierte beispielsweise nebst der öffentlichen Schule den Studiengang «Data Science» rein online, gratis und auf Englisch. Die andere, jüngere Tochter macht ihre Hausaufgaben seit 2 Jahren mit Alexa, dem Cloud-basierten Sprachdienst von Amazon und lernt online Koreanisch, ebenfalls kostenlos.


CS: Nicht zuletzt die Schweizer Untersuchung zeigt, dass der Präsenzunterricht nach wie vor im Vordergrund steht, nicht, weil es an den technologischen Möglichkeiten fehlen würde, sondern weil andragogische Gründe besagen, dass das Lernen gemeinsam mit andern wichtig ist. Wir sprechen von digitalem Lernen seit 1970. Die Veränderungen in der Weiterbildung sind jedoch relativ gering.


So besteht also auch kein grosser Druck auf Weiterbildungsinstitutionen, sich organisatorisch an veränderte Bedingungen anzupassen?


CS: Ich kann das nicht pauschal beantworten. Wenn eine Organisation merkt, dass ihr Markt wegbricht, die Zahlen sinken, ist dies natürlich ein Grund nachzudenken. Oder eine Organisation entscheidet sich dafür, das online-basierte Lernen auszubauen. In diesem Fall braucht es neue, agilere Strukturen.


MA: Gerade im Bereich der beruflichen Aus- und Weiterbildung scheint mir der Druck vorhanden. Innert kürzester Zeit entstanden zahlreiche online Bildungsanbieter mit tausendenden von Kursen mit hoch-professionellen Lerninhalten und –formen. Alleine die Plattform edX verfügt über knapp 3000, häufig kostenlose Kurse mit mehreren tausend eingeschriebenen Studierenden u.a. in den Bereichen Führung, Organisation oder Technologien. Das nenne ich Skalierung. Dort lernt man übrigens auch zusammen; die Studierenden beurteilen die Arbeiten ihrer Mitstudierenden, egal wo man sich auf der Welt befindet. Wir können nicht ignorieren, dass wir mit neuen Playern konfrontiert sind, die quasi über Nacht aufgetaucht sind: Youtube, LinkedIn und manche mehr. Und wir haben keine 10 Jahre mehr Zeit, um mal abzuwarten. Wir müssen jetzt reagieren.


Das haben Sie mit der Klubschule getan und Ihre Organisation auf agil umgestellt. Aber was heisst eigentlich agil in Ihrem Verständnis?


MA: Flexibel, beweglich, möglichst selbstorganisierend und befähig, Kundenbedürfnisse schnell zu erkennen und bedienen zu können.


Ist das Agilität im organisatorischen Sinn, Frau Schiersmann?


CS: Dem kann ich durchaus zustimmen. Meine Kritik richtet sich auf den Umstand, dass das Konzept der Agilität organisationstheoretisch nicht hinterlegt ist. Es ist ein Appell, eine Anforderung. Aber es ist noch keine Antwort auf die Frage, was ich eigentlich tun muss. Diese Antworten geben die Methoden wie Scrum, Design Thinking oder wie sie alle heissen. Aber ich frage mich auch ganz grundsätzlich, ob agil immer besser ist? Überfordern wir nicht auch die Mitarbeitenden, die in verschiedene Change- und Qualitätsprozesse eingebunden sind? Selbstverantwortung auch für wirtschaftliche Ergebnisse, wie es in agilen Organisationen vorgesehen ist, muss man erst lernen. Es finden also tiefgreifende Umorientierungsprozesse statt. Deswegen würde ich nicht allen Weiterbildungsinstitutionen raten, eine agile Organisation anzustreben, nur weil jetzt alle von Agilität sprechen.


Können Selbstverantwortung und unternehmerisches Denken sozusagen on the job gelernt werden, Herr Achermann?


MA: Ich denke schon. Natürlich wäre es einfacher, wenn wir bereits befähigte Leute einstellen könnten, die schon den perfekten, agilen Mindset besitzen und die agilen Tools sowie Methoden kennen. Aber wir haben gute, motivierte Mitarbeitende und die können das lernen. Wir müssen ihnen und sie sich gegenseitig dabei nur unterstützen.


Doch mal Hand aufs Herz: Haben sie die Hierarchie tatsächlich zum Verschwinden gebracht?


MA: Man kann es nicht wegdiskutieren: Wenn jemand 20 Jahre lang Chef war und plötzlich in einem Team mit seinen ehemaligen Mitarbeitenden gleichgestellt sein soll, ist das nicht immer einfach. Auch nicht für die ehemaligen Mitarbeitenden. Die Hierarchie wird gänzlich verschwinden, nicht aber die Führung als klare und rotierbare Rolle.


CS: Die Gefahr besteht, dass formale Hierarchien und formale Regeln, werden sie ausser Kraft gesetzt, durch informelle Regeln ersetzt werden. Das wissen wir aus verschiedenen Konzepten zur Demokratisierung von Organisationen. Man könnte zugespitzt sagen, Macht setzt sich trotzdem irgendwie fort oder durch und sie ist möglicherweise schwerer zu kontrollieren, wenn die Verhältnisse weniger transparent sind.


Ein anderes Problem, das bei einer Abschaffung von Hierarchien nicht leicht zu lösen ist, ist die Lohnfrage. Schliesslich rechtfertigt sich ein höherer Lohn in einer selbstorganisierten Organisation nicht mehr über eine Vorgesetztenposition. Herr Achermann, welche weiteren Fragen beschäftigen Sie nach der Umstellung?


MA: Kulturelle Themen wie beispielsweise Streitkultur oder Wertschätzung. In der Vergangenheit hatte jeder einen Chef oder eine Chefin; er oder sie vermittelte Wertschätzung oder löste Meinungsverschiedenheiten. Das müssten jetzt die Teammitglieder tun. In einigen Teams funktioniert es schon gut, in anderen hat es noch Potential.


CS: Kann es auch sein, dass die gruppendynamische Tradition oder die Teamentwicklungstradition in diesen Modellen aufgrund ihrer Herkunft aus dem IT- und Software-Bereich auf der Strecke bleiben? Vielleicht wäre es angebracht, aus anderen Theorietraditionen Elemente dazu zu holen, um das eine oder andere noch etwas besser gestalten zu können.


Wohin soll sich im Kontext agiler Organisationen denn eigentlich die Qualitätssicherung weiterentwickeln?


CS: Zumindest in Deutschland leiden wir bereits an einer Überbürokratisierung des Qualitätsmanagements. Verschiedene Untersuchungen zeigen auch, dass das Qualitätsmanagement an der inhaltlichen Qualität nicht wirklich viel verändert hat. Es handelt sich um die Dokumentation von Strukturen und Prozessen und dient dazu, ein Label einzukaufen. Ich glaube, hier sind Umstrukturierungen wichtig, damit es eher ums Qualitative geht.


MA: Qualitätsmanagement braucht es weiterhin, einfach ein anderes. Es braucht ein Qualitätsmanagement, das eine agile, unternehmerische Kultur fördert, die neuen Skills, die Tools, die Methoden und den agilen Mindset weiterentwickelt, sinnvolle Standards koordiniert und das gegenseitige Lernen sowie den Laserfokus «Kunde» sichert.


Wie sehen sie beide die Zukunft: Ist Agilität nur Hype oder hat es Bestand?


MA: Die Dynamik von heute wird sich noch stark beschleunigen in einem Mass, das weit über unsere Vorstellungen hinausgeht.


CS: Ich hoffe auf Gegenwind. Meine Sorge ist, dass wir die Menschen überfordern mit immer neuen Anforderungen, mit ständig neu erzeugtem Druck. Es braucht eine gewisse Besinnung, eine Zäsur.


Interview/Text by Roland Schenkel

Die Klubschulen der Genossenschaft Migros Luzern transformierten ihre langjährige Organisation von Matrix auf Agil. Selbstorganisierte, schlanke und autonome Einheiten, sogenannte Squads, tragen heute die Verantwortung für ihren Geschäftserfolg. Doch was ist agil und selbstorganisiert?


Animation by 16zu9 - www.16zu9.ch


Als erstes Unternehmen der Migros-Gruppe wechselten die Klubschulen der Genossenschaft Migros Luzern von einer klassischen Matrix-Organisation zur Selbstorganisation. Weshalb sie diesen Weg wählte, hat mehrere Gründe. Die Digitalisierung und die dadurch entstehenden Veränderungen des Bildungsmarkts ist dabei sicherlich einer der wichtigsten. Hinzu kommen steigende Kundenbedürfnisse sowie Erwartungen der Mitarbeitenden bezogen auf mehr Verantwortung und Gestaltungsmöglichkeiten im Unternehmen. Um in diesem Umfeld beweglich zu bleiben, wollte sich die Klubschule von starren Strukturen lösen. Kurzum: agil werden. Was das bedeutet, erklärt Michael Achermann, Schulleiter, im Interview:


Die Klubschulen der Genossenschaft Migros Luzern sind agil organisiert. Was darf man sich darunter vorstellen?


Agilität bedeutet Anpassungsfähigkeit und Beweglichkeit. Wir verabschiedeten uns von unserer langjährigen, bewährten hierarchischen Matrix-Organisation und sind nun als selbstorganisierte Unternehmung unterwegs.


Weshalb bewährte sich die herkömmliche Organisation nicht mehr?


Der Bildungsmarkt wandelt sich immer schneller. Um mithalten zu können, sind innovativere und schnellere Prozesse gefragt. Dazu müssen wir neue Wege gehen und alte Muster durchbrechen.


Was bedeutet dies für die Mitarbeitenden?


Mehr Gestaltungsfreiraum und Verantwortung. Beispielsweise können Herausforderungen nicht mehr einfach beim Vorgesetzten deponiert werden. Die Mitarbeitenden tragen stattdessen aktiv zur Lösungsfindung und zum Geschäftserfolg bei.


Heisst das konkret, dass es keine Vorgesetzten mehr gibt?


Vorgesetzte im traditionellen Sinne gibt es tatsächlich keine mehr. Entscheide werden stattdessen soziokratisch gefällt und rasch umgesetzt – auf Augenhöhe, nicht auf Anweisung.

Braucht es nicht gerade in ungewissen Zeiten eine klare Führung?


Ich würde nicht sagen, dass wir ungewisse Zeiten vor uns haben. Fakt ist, dass die hohe Marktdynamik von jedem Mitarbeitenden verlangt, dass er sich mit dem Unternehmen identifiziert und zum Erfolg beiträgt. Eine Führung braucht es aber nach wie vor. Sie setzt dabei in hohem Masse auf Vertrauen, Transparenz und Eigenverantwortung der Mitarbeitenden und gibt den Rahmen vor, in dem sie sich bewegen können.


Worin sehen Sie den grössten Vorteil einer agilen Organisation?


Für Unternehmen ist dieses Modell aus meiner Sicht die zukünftige Grundvoraussetzung für den wirtschaftlichen Erfolg. Für die Mitarbeitenden ist es die einmalige Chance, ihre Fähigkeiten aktiv einbringen zu können.


Inwiefern spüren die Kunden etwas davon?


Unser Portfolio basiert noch mehr auf den echten und aktuellen Kundenbedürfnissen. Zudem nehmen unsere Kunden uns als äusserst kompetent und motiviert wahr.


Ist dieses Modell auch für andere Bereiche der Migros-Gruppe denkbar?


Diverse grosse erfolgreiche Unternehmen sind bereits agil unterwegs. Ich denke, dass dieses Modell auch innerhalb der Migros-Gruppe weiter Anklang finden könnte.


Und zum Schluss ein Blick in die Glaskugel: Wie sieht die Zukunft der Klubschulen der Genossenschaft Migros Luzern aus?


Wir werden weiterhin auf zwei Bereiche setzen: Die persönliche Entfaltung, wo der Spass und das gemeinsame Erlebnis im Vordergrund stehen, sowie die berufliche Entwicklung, wo der Fokus auf praxisrelevanten Studiengängen liegt. So oder so – ich weiss, dass wir selber für unsere Zukunft verantwortlich sind, und diese wird spannend, farbig und abwechslungsreich sein.



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