Die digitale Transformation hat längst auch den Weiterbildungsmarkt erreicht. Müssen Weiterbildungsinstitutionen darauf mit einer Umstellung ihrer Organisationsstruktur reagieren? Die Meinungen gehen auseinander.
Die digitale Transformation hat zahlreiche Branchen in ihren Grundfesten erschüttert. Man spricht von disruptiven Entwicklungen. Auch im Weiterbildungsmarkt scheint es Bewegung zu geben. Neue Anbieter wie Youtube oder LinkedIn drängen auf den Markt. Plattformen wie edX bieten Kurse renommierter Hochschulen an, die man ohne Präsenzzeit an irgendeiner Schule absolvieren kann. Vermag all das die traditionellen Anbieter zu erschüttern? Verdrängen die neuen Angebote herkömmliche Vermittlungsmethoden? Und wie sollen sich Weiterbildungsinstitutionen organisatorisch auf die neuen Bedingungen einstellen?
Das Institut für berufliche Aus- und Weiterbildung (IBAW) und die Klubschulen der Genossenschaft Migros Luzern haben ihre Organisation radikal umgestellt. Sie setzen auf Agilität. An die Stelle einer Top-Down-Matrixorganisation traten sich selbstorganisierende, kleine Teams, sogenannte Squads. Sie sind wirtschaftlich autonom, heterogen und funktionieren nach dem Konsentprinzip. Chefs waren gestern. Neu wird in Rollen gedacht und gearbeitet. Institutsleiter Michael Achermann ist von der Notwendigkeit der Umstellung überzeugt. Für ihn ist eine agile Organisation ein Gebot der Stunde, um am Markt weiterhin bestehen zu können.
Christiane Schiersmann, Professorin am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Heidelberg, sieht Bildungsinstitutionen nicht global unter Druck, sich aufgrund der Marktveränderungen auch organisatorisch neu aufzustellen. Sie warnt zudem davor, Mitarbeitende mit ständig neuen Anforderungen zu konfrontieren.
Am Rande der dritten nationalen Qualitätstagung am 10. Dezember 2019 in Bern «Wie agil müssen Weiterbildungsorganisationen heute sein?» sprachen wir mit Christiane Schiersmann und Michael Achermann über sich verändernde Märkte und agile Organisationsformen sowie über Folgerungen für das Qualitätsmanagement.
Frau Schiersmann, Sie sagen, die Weiterbildungsanbieter erleben den digitalen Wandel nicht disruptiv. Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?
Christiane Schiersmann (CS): Ich kann mich dabei auf die Untersuchung des SVEB und der pädagogischen Hochschule Zürich zum Grad der Digitalisierung in Weiterbildungseinrichtungen stützen. Man gesteht der Digitalisierung zwar eine grosse Bedeutung zu, empfindet sie aber nicht als disruptiv. Das deckt sich auch mit meiner Einschätzung und anderen Untersuchungen. Aber natürlich stellt sich die Situation für unterschiedliche Weiterbildungsanbieter auch unterschiedlich dar.
Michael Achermann (MA): Ich glaube, es hängt sehr stark davon ab, in welchem Bereich die Schule tätig ist: ob in der Grundbildung, der privaten oder der beruflichen Weiterbildung. Aber ich bin letztlich davon überzeugt, dass der Weiterbildungsmarkt insbesondere der Markt der beruflichen Weiterbildung wie viele andere Märkte stark der Disruption unterworfen ist, wenn man darunter einen schnellen und radikalen Wandel versteht. Allein die Geschwindigkeit, mit der wir uns heute Wissen aneignen müssen, hat sich gegenüber der Vergangenheit exponentiell beschleunigt. Hinzu treten neue Anbieter mit digitalen Background innert kürzester Zeit mit neue Angeboten und Möglichkeiten in den Markt. Eine meiner Töchter ist 15 Jahre alt und absolvierte beispielsweise nebst der öffentlichen Schule den Studiengang «Data Science» rein online, gratis und auf Englisch. Die andere, jüngere Tochter macht ihre Hausaufgaben seit 2 Jahren mit Alexa, dem Cloud-basierten Sprachdienst von Amazon und lernt online Koreanisch, ebenfalls kostenlos.
CS: Nicht zuletzt die Schweizer Untersuchung zeigt, dass der Präsenzunterricht nach wie vor im Vordergrund steht, nicht, weil es an den technologischen Möglichkeiten fehlen würde, sondern weil andragogische Gründe besagen, dass das Lernen gemeinsam mit andern wichtig ist. Wir sprechen von digitalem Lernen seit 1970. Die Veränderungen in der Weiterbildung sind jedoch relativ gering.
So besteht also auch kein grosser Druck auf Weiterbildungsinstitutionen, sich organisatorisch an veränderte Bedingungen anzupassen?
CS: Ich kann das nicht pauschal beantworten. Wenn eine Organisation merkt, dass ihr Markt wegbricht, die Zahlen sinken, ist dies natürlich ein Grund nachzudenken. Oder eine Organisation entscheidet sich dafür, das online-basierte Lernen auszubauen. In diesem Fall braucht es neue, agilere Strukturen.
MA: Gerade im Bereich der beruflichen Aus- und Weiterbildung scheint mir der Druck vorhanden. Innert kürzester Zeit entstanden zahlreiche online Bildungsanbieter mit tausendenden von Kursen mit hoch-professionellen Lerninhalten und –formen. Alleine die Plattform edX verfügt über knapp 3000, häufig kostenlose Kurse mit mehreren tausend eingeschriebenen Studierenden u.a. in den Bereichen Führung, Organisation oder Technologien. Das nenne ich Skalierung. Dort lernt man übrigens auch zusammen; die Studierenden beurteilen die Arbeiten ihrer Mitstudierenden, egal wo man sich auf der Welt befindet. Wir können nicht ignorieren, dass wir mit neuen Playern konfrontiert sind, die quasi über Nacht aufgetaucht sind: Youtube, LinkedIn und manche mehr. Und wir haben keine 10 Jahre mehr Zeit, um mal abzuwarten. Wir müssen jetzt reagieren.
Das haben Sie mit der Klubschule getan und Ihre Organisation auf agil umgestellt. Aber was heisst eigentlich agil in Ihrem Verständnis?
MA: Flexibel, beweglich, möglichst selbstorganisierend und befähig, Kundenbedürfnisse schnell zu erkennen und bedienen zu können.
Ist das Agilität im organisatorischen Sinn, Frau Schiersmann?
CS: Dem kann ich durchaus zustimmen. Meine Kritik richtet sich auf den Umstand, dass das Konzept der Agilität organisationstheoretisch nicht hinterlegt ist. Es ist ein Appell, eine Anforderung. Aber es ist noch keine Antwort auf die Frage, was ich eigentlich tun muss. Diese Antworten geben die Methoden wie Scrum, Design Thinking oder wie sie alle heissen. Aber ich frage mich auch ganz grundsätzlich, ob agil immer besser ist? Überfordern wir nicht auch die Mitarbeitenden, die in verschiedene Change- und Qualitätsprozesse eingebunden sind? Selbstverantwortung auch für wirtschaftliche Ergebnisse, wie es in agilen Organisationen vorgesehen ist, muss man erst lernen. Es finden also tiefgreifende Umorientierungsprozesse statt. Deswegen würde ich nicht allen Weiterbildungsinstitutionen raten, eine agile Organisation anzustreben, nur weil jetzt alle von Agilität sprechen.
Können Selbstverantwortung und unternehmerisches Denken sozusagen on the job gelernt werden, Herr Achermann?
MA: Ich denke schon. Natürlich wäre es einfacher, wenn wir bereits befähigte Leute einstellen könnten, die schon den perfekten, agilen Mindset besitzen und die agilen Tools sowie Methoden kennen. Aber wir haben gute, motivierte Mitarbeitende und die können das lernen. Wir müssen ihnen und sie sich gegenseitig dabei nur unterstützen.
Doch mal Hand aufs Herz: Haben sie die Hierarchie tatsächlich zum Verschwinden gebracht?
MA: Man kann es nicht wegdiskutieren: Wenn jemand 20 Jahre lang Chef war und plötzlich in einem Team mit seinen ehemaligen Mitarbeitenden gleichgestellt sein soll, ist das nicht immer einfach. Auch nicht für die ehemaligen Mitarbeitenden. Die Hierarchie wird gänzlich verschwinden, nicht aber die Führung als klare und rotierbare Rolle.
CS: Die Gefahr besteht, dass formale Hierarchien und formale Regeln, werden sie ausser Kraft gesetzt, durch informelle Regeln ersetzt werden. Das wissen wir aus verschiedenen Konzepten zur Demokratisierung von Organisationen. Man könnte zugespitzt sagen, Macht setzt sich trotzdem irgendwie fort oder durch und sie ist möglicherweise schwerer zu kontrollieren, wenn die Verhältnisse weniger transparent sind.
Ein anderes Problem, das bei einer Abschaffung von Hierarchien nicht leicht zu lösen ist, ist die Lohnfrage. Schliesslich rechtfertigt sich ein höherer Lohn in einer selbstorganisierten Organisation nicht mehr über eine Vorgesetztenposition. Herr Achermann, welche weiteren Fragen beschäftigen Sie nach der Umstellung?
MA: Kulturelle Themen wie beispielsweise Streitkultur oder Wertschätzung. In der Vergangenheit hatte jeder einen Chef oder eine Chefin; er oder sie vermittelte Wertschätzung oder löste Meinungsverschiedenheiten. Das müssten jetzt die Teammitglieder tun. In einigen Teams funktioniert es schon gut, in anderen hat es noch Potential.
CS: Kann es auch sein, dass die gruppendynamische Tradition oder die Teamentwicklungstradition in diesen Modellen aufgrund ihrer Herkunft aus dem IT- und Software-Bereich auf der Strecke bleiben? Vielleicht wäre es angebracht, aus anderen Theorietraditionen Elemente dazu zu holen, um das eine oder andere noch etwas besser gestalten zu können.
Wohin soll sich im Kontext agiler Organisationen denn eigentlich die Qualitätssicherung weiterentwickeln?
CS: Zumindest in Deutschland leiden wir bereits an einer Überbürokratisierung des Qualitätsmanagements. Verschiedene Untersuchungen zeigen auch, dass das Qualitätsmanagement an der inhaltlichen Qualität nicht wirklich viel verändert hat. Es handelt sich um die Dokumentation von Strukturen und Prozessen und dient dazu, ein Label einzukaufen. Ich glaube, hier sind Umstrukturierungen wichtig, damit es eher ums Qualitative geht.
MA: Qualitätsmanagement braucht es weiterhin, einfach ein anderes. Es braucht ein Qualitätsmanagement, das eine agile, unternehmerische Kultur fördert, die neuen Skills, die Tools, die Methoden und den agilen Mindset weiterentwickelt, sinnvolle Standards koordiniert und das gegenseitige Lernen sowie den Laserfokus «Kunde» sichert.
Wie sehen sie beide die Zukunft: Ist Agilität nur Hype oder hat es Bestand?
MA: Die Dynamik von heute wird sich noch stark beschleunigen in einem Mass, das weit über unsere Vorstellungen hinausgeht.
CS: Ich hoffe auf Gegenwind. Meine Sorge ist, dass wir die Menschen überfordern mit immer neuen Anforderungen, mit ständig neu erzeugtem Druck. Es braucht eine gewisse Besinnung, eine Zäsur.
Interview/Text by Roland Schenkel
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