Die Reise nach Costa Rica – oder wie man eine Bildungsinstitution in eine agile Organisation verwandelt
Mit agilen Organisationsstrukturen wollen sich Unternehmen für die Herausforderungen eines zunehmend volatilen, dynamischen Umfeldes wappnen. Dass Agilität nicht einfach nur ein bisschen Flexibilisierung bedeutet, sondern einen radikalen Kulturwandel verlangt, zeigt sich am Beispiel des Instituts für berufliche Aus- und Weiterbildung (IBAW) und der Klubschulen der Genossenschaft Migros Luzern. Diese haben 2019 ihre Organisation umgebaut. Die Corona-Pandemie war eine Art Härtetest.
Autor: RONALD SCHENKEL (EP Schweizerische Zeitschrift für Weiterbildung: Nr. 2 / 2021)
Im April 2019 haben das Institut für berufliche Aus- und Weiterbildung (IBAW) und die Klubschulen der Genossenschaft Migros Luzern ihre Organisation radikal umgestellt: von einer klassischen Top-Down-Matrix-Organisation auf selbstorganisierende Teams. Ziel war es, eine zukunftsfähige, das heisst vor allem eine anpassungsfähige Organisation zu schaffen. Das Stichwort lautet Agilität. Mit einer agilen Selbstorganisation wollte die Institution auf das zunehmend schnellere, unvorhersehbarere und komplexere Marktumfeld reagieren, in dem sie sich bewegt. Dabei unternahm das IBAW als eines der ersten Unternehmen der Migros-Gruppe diesen Schritt.
Agilität ist nicht mit Flexibilität zu verwechseln.[1] Und agiles Handeln setzt entsprechende Organisationsstrukturen voraus. Das IBAW orientierte sich an den Prinzipien der «Soziokratie S3» und an Organisationselementen von Spotify. Der ursprünglich schwedische Musik- und Videostreaming-Dienst hat verschiedene agile Methoden in einem Organisationsmodell zusammengefasst, das heute als Spotify-Modell vielen Unternehmen als Vorlage dient. So auch dem IBAW.
Squads als Miniunternehmen Kern des Spotify-Modells sind sogenannte Squads. Beim IBAW bestehen diese Teams aus vier bis maximal sechs Mitarbeitenden. Sie agieren als wirtschaftliche «Mini-Unternehmen». Sie legen ihre Strategie fest und sind für ihren Erfolg verantwortlich. Themenverwandte Squads werden in Business-Units zusammengefasst. Den Squads stehen verschiedene Shared Services zur Verfügung, wie zum Beispiel IT, HR oder Finanzen. Die Führungsebene bildet der sogenannte Tribe Lead, wobei Führung nicht im traditionellen Sinne als Erteilen von Direktiven zu verstehen ist. Der Tribe Lead sieht sich als Unterstützer der einzelnen Squads, legt die Gesamtstrategie fest und fördert die Unternehmenskultur. Dieser kommt eine ganz besondere Bedeutung zu. Sie beruht auf Vertrauen. Das mag heute ziemlich banal klingen, gibt es doch kaum ein Unternehmen, das für sich nicht in Anspruch nähme, über eine vertrauensvolle Unternehmenskultur zu verfügen.
Der Tribe Lead des IBAW geht jedoch davon aus, dass jeder Mitarbeitende stets im Sinne des Unternehmens handelt. Demensprechend wird möglichst wenig reglementiert, wie beispielsweise zu Spesenabrechnungen oder wer wann wo wie viel arbeiten muss. Laut Michael Achermann, der sich in Übereinstimmung mit der neuen Sprachregelung Lead IBAW nennt, lässt sich der Reifegrad einer vertrauensvollen Unternehmenskultur sehr gut am Umfang des Spesenreglements messen. Je mehr geregelt werde, desto geringer falle das Vertrauen gegenüber den Mitarbeitenden aus, dass diese im Sinne der Unternehmung handeln würden – und umgekehrt.
Das wiederum bedeutet, dass man auch zu Fehlern stehen muss – und kann. Denn auch das gehört zu einer vertrauensvollen Kultur, dass man bei der Darlegung eines Fehlers nicht mit Abstrafung rechnen muss. Werden Fehler aber aktiv kommuniziert, kann man mit ihnen eher umgehen und auch aus ihnen lernen, so Achermann.
Entscheiden nach dem Konsentprinzip Zu den Besonderheiten der Soziokratie wiederum gehört, dass Entscheide nach dem Konsentprinzip (explizit nicht nach dem Konsensprinzip) gefällt werden. Das heisst: Jeder ist berechtigt und auch aufgefordert, Anregungen und Ideen einzubringen, wobei diese gut begründet werden müssen. Dabei sollen alle betroffenen Mitglieder gehört und Meinungen oder Einwände integriert werden. Entscheidungen sollen von allen nachvollzogen und mitgetragen werden. Auch dazu ist Vertrauen notwendig. Solches im unternehmerischen Alltag zu leben, muss man aber erst einmal lernen.
Für die Implementierung der neuen Organisationsstruktur standen dem IBAW externe Coaches zur Seite. Überdies bildete man eigene Mitarbeitende intern zu sogenannten Agile Coaches weiter. «Eigentlich kannten wir die Stolpersteine, die auf unserem Weg lagen», sagt Michael Achermann, der sich, ganz der Terminologie des Spotify-Modells entsprechend, nicht Leiter, sondern Lead IBAW nennt. Trotzdem verlief nicht alles reibungslos. Das wiederum hat viel mit Traditionen, Gewohnheiten, ja mit der zuweilen doch etwas besonderen Art der Sozialisierung von uns Schweizerinnen und Schweizern zu tun.
Agil ist mehr als Theorie Im Nachhinein, knapp drei Jahre nach Einführung der agilen Selbstorganisation, ist für Michael Achermann klar: Die agile Organisation muss man (er-)leben, um sie tatsächlich zu verstehen und agil handeln zu können. Denn es ist nicht jedermanns Sache, in Lösungen zu denken, seinen eigenen Standpunkt einzubringen und diesen im Team zu verteidigen. «In eine Selbstorganisation zu wechseln, ist wie eine Reise nach Costa Rica», meint Achermann. Dort könne man sich von wunderbaren Regenwäldern verzaubern lassen, von Papageien und Schmetterlingen. Aber es gebe eben auch die Stechmücken. Nur wer mit beidem zurechtkomme, sei am richtigen Platz. Kein Wunder, verzeichneten manche Teams anfänglich hohe Fluktuationsraten. In anderen tendierte sie indes gegen null. «Wer geblieben ist, weiss die gewonnenen Handlungsspielräume zu schätzen und diese für die Unternehmung sinnvoll zu nutzen», ist Achermann überzeugt.
Zu diesen Handlungsspielräumen gehört die Selbstorganisation von Aufgaben innerhalb der Teams. Die einzelnen Teammitglieder haben dabei keine eigentlichen Funktionen im klassischen Sinn inne, sondern geben sich Rollen. Für jede Rolle existiert eine Rollenkarte. Diese umfasst die Rollenbeschreibung und Tätigkeiten für die Inhaberinnen und Inhaber. Sie ist so verfasst, dass sie Raum lässt, wie die Rolle auszufüllen ist. Rollenzuordnungen sind nicht fix, sondern wechseln je nach Situation aufgrund von Fähigkeiten und Eigenschaften der einzelnen Mitarbeitenden. «Dies erlaubt, dass die Mitarbeitenden das IBAW mitgestalten und sich mit ihren Rollen sowie dem Unternehmen identifizieren können», sagt Achermann. Weiter könnten bei Bedarf rasch neue Rollen geschaffen oder nicht mehr benötigte Rollen entfernt werden.
Es drohen die alten Muster Zum Schwierigsten auf dem Weg zur agilen Organisation gehörte, so Achermann, nicht in alte Muster zurückzufallen. Dass diese funktionierten, wusste man ja. Hätte man allerdings nachgegeben, wäre aus agil bald wieder traditionell geworden. Es galt, Gewohnheiten, aber auch Erwartungen zu widerstehen – den eigenen und jenen, die an einen herangetragen wurden. «Von uns, den früheren Chefs, erwartete man noch lange, dass wir Entscheidungen treffen und Lösungen präsentieren würden. Umgekehrt mussten wir lernen, dass unsere Vorschläge nicht automatisch umgesetzt und von den Squads auch schon mal ganz verworfen wurden.»
Gefordert waren aber auch die Mitarbeitenden im Umgang untereinander. Anfänglich habe man wie früher Klagen über Teammitglieder und Probleme den ehemaligen Chefs vorgetragen, anstatt diese im Team zu klären. Eine offenere Feedback-Kultur ist eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen von agilen Organisationen, denn nur so können auch die Rollen effizient zugeteilt werden. Nicht jeder, der gerne eine bestimmte Rolle hätte, ist in jedem Fall dazu geeignet. Das muss das Team ansprechen können. Auch die Mitarbeiterbeurteilung wird auf Ebene der Teams vorgenommen. «Jemandem sagen zu können, was er nicht gut kann, ist nichts Negatives», betont Achermann. «Vielmehr schulde man dem oder der anderen diese Offenheit.» Zwar sei man noch nicht ganz am Ziel einer der Organisation angemessenen Feedback-Kultur, aber auf gutem Wege.
Über den eigenen Schatten springen mussten die Squads des IBAW auch bezüglich der Vorstellungen, wann ein Bildungsangebot zur Durchführung bereit war. «Geschwindigkeit vor Perfektionismus» lautet das neue Credo, verbunden mit der Handlungsanleitung: «Fail fast, learn fast». Es gehe nicht darum, Fehler zu vermeiden, sondern daraus schnell zu lernen, sagt Achermann. Doch muss man wohl ungeschminkt sagen, dass das Primat der Geschwindigkeit und der Umgang mit einer neuen Fehlerkultur an sämtliche Teammitglieder hohe Erwartungen stellt. Mit einem neuen Bildungsangebot, das zuerst einmal nicht perfekt ist, rasch in den Kursraum zu gehen, um es dann später zu verbessern, ist zumindest in einem schweizerischen Verständnis unorthodox.
Corona als Testfall Doch nur dank dieser Orientierung an Geschwindigkeit und dank der sich selbstorganisierenden und autonom handelnden Squads habe man so rasch auf die Corona-Krise reagieren können. Während andere Bildungsanbieter Wochen brauchten, um ihr Online-Angebot aufzubauen, war das IBAW am Tag nach dem Inkrafttreten des Präsenzverbots bereit. Man habe dabei auf Kundenbedürfnisse reagiert, sagt Achermann. Denn was die Leute wollten, war klar: So rasch wie möglich ihre Ausbildung abschliessen.
Die Corona-Pandemie lässt sich im Rückblick als eine Art Bewährungsprobe für die agile Selbstorganisation des IBAW lesen. «Test bestanden», lautet Achermanns Fazit. Es erscheint denn auch logisch, dass die Organisationsstruktur des IBAW der Genossenschaft Migros Luzern nicht auf die Zentralschweiz beschränkt bleibt. Mit der Herauslösung der Berufsbildungsangebote aus den Klubschulen und deren Integration ins IBAW wird das Institut IBAW zu einer nationalen Bildungsanbieterin mit einer agilen Selbstorganisation.
Die Rechnung geht auf Am Ende zählen Kundennutzen und Wirtschaftlichkeit. Für Michael Achermann hat sich die Reorganisation ausbezahlt, im eigentlichen Wortsinn. Zwar seien die Personalkosten gleichgeblieben. Aber auf der Seite der Unternehmenskultur, der Loyalitäts- und schlussendlich der Ertragsseite habe sich der Wandel positiv niedergeschlagen.
Und noch etwas habe man dank der neuen Organisation gewonnen: Die Innovationskraft des IBAW sei deutlich gestiegen. Zum einen, weil Ideen von Teammitgliedern eingebracht und auf Ebene der Squads entwickelt würden und nicht mehr durch Hierarchien gereicht werden müssten. Zum andern aber auch, weil der Tribe Lead, die früheren Chefs, sich wesentlich besser darauf konzentrieren könnten, sich mit der Gesamtstrategie des Unternehmens zu beschäftigen und auf übergeordneter Ebene Neues zu schaffen.
Für Michael Achermann ist klar: Der Bildungsmarkt, in dem sich das IBAW bewegt, bleibt weiterhin raschen Veränderungen unterworfen. Auf der einen Seite steige der Fachkräftemangel in bestimmten Bereichen, auf der anderen Seite kämen neue, auch internationale, digitale Player quasi über Nacht hinzu.
Eine agile Selbstorganisation sei deshalb umso wichtiger, um zu überleben und zukünftige Chancen nutzen zu können, ist Achermann überzeugt. Die digitale Transformation betrifft zwar alle Branchen. Aber für Achermann sehen sich Bildungsinstitutionen wie das IBAW wesentlich stärker mit den Bedingungen der VUKA-Welt, in der Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit herrschen, konfrontiert als etwa Stromerzeuger oder Strassenbauer. Grösse, sagt Achermann, spiele dabei keine Rolle. Auf die Haltung komme es an.
Zum einen bekenne sich das IBAW ganz zur Schweiz, sagt Achermann, und wolle einen Beitrag zur Stärkung des Standorts leisten. Zum andern aber gehe es eben auch um Konkurrenzfähigkeit. Produkte und Bildungskonzepte könne man kopieren, meint der Lead IBAW, eine Kultur aber nicht. Auf diese neue Kultur setzt der IBAW Lead Achermann.
Mit Verweis auf Andreas Auglinger betont dies Karin Dollhausen vom Deutschen Institut für Erwachsenenbildung, vgl. Dollhausen 2020 und 2021 in diesem Heft.
Literatur Dollhausen, Karin (2020): Gestaltung zukunftsfähiger Strukturen in öffentlichen Erwachsenenbildungseinrichtungen. In: Forum Erwachsenenbildung 3/2020. Dollhausen, Karin (2021): Strukturelle Veränderungen und Herausforderungen für Erwachsenenbildungseinrichtungen – Implikationen für die Kompetenzentwicklung des pädagogischen Personals. In: Education Permanente EP 2021-2. Zürich: SVEB. Ronald Schenkel ist freier Journalist, er unterstützt die EP redaktionell. Kontakt: ronald.schenkel@alice.ch
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